Fangen wir den Wolf …?

 

Foto: Daniela Djeriou

Peter und der Wolf – die Katze,  der Vogel,  die Ente –
der Großvater und die Jäger!

Dieses Figurenensemble kennt jedes Kind: „Peter und der Wolf“ ist sicher das bekannteste Musikmärchen in der modernen Musik. Es wurde am 2. Mai 1936  im Moskauer Kindertheater uraufgeführt: mit der Musik von Sergei Prokofew (1891-1953), der auch mit Natalja Saz (1903-1993), der Leiterin des Theaters, die Geschichte des mutigen Peter verfaßte. Und endlos ist die Reihe der Adaptionen von David Bowie bis Loriot … 

Zum 85. Geburtstag der Uraufführung haben wir in 2021  in der Bauhauskirche Niederursel diese alte Geschichte in unsere Gegenwart hinein aktualisiert und in verschiedenen Abendgottesdiensten jeweils eine Figur des Märchens in den Mittelpunkt gestellt.

 

Peter und der Wolf - Ein neues Märchen …

Unsere Kinder haben alle ohne Ausnahme großes Interesse am Orchester (…)Könnten wir nicht neue sinfonische Märchen schaffen (…)?

Natalja Saz (1903-1993) wird schon mit 15 Jahren zur künstlerischen Leiterin des Moskauer Kindertheaters ernannt – sie ist jung und weiß gut, was Kinder und Jugendliche gerne sehen und hören. Sie ist die Tochter der Sängerin Anna Schtschastnaja und des Komponisten Ilja Saz, mit Theater und Musik ist sie aufgewachsen. Und sie hat Erfolg – die Stücke, die sie auf der Bühne zum Leben erweckt, werden auch außerhalb von Russland beachtet, und sie wird nach Deutschland, Brasilien und Japan eingeladen.

Als der Komponist Sergei Prokofjew (1891-1953) nach vielen Jahren im Ausland in den 1930er Jahren wieder nach Moskau zurückkehrt, verstehen sich die beiden schnell – und Natalja bittet ihn, für ihre Kinder ein Musikmärchen zu komponieren: „Ich möchte gern, daß so ein Märchen die Kinder in fesselnder, verständlicher Form mit den Instrumenten bekanntmacht, die zu einem Sinfonieorchester gehören (…)“ Gemeinsam entwickeln sie im Frühjahr 1936 die Idee von „Peter und der Wolf“:

Wenn wir jede Tierrolle mit einem Instrument besetzen, muß die Menschenfigur von einem Streichquartett dargestellt werden, weil sie vielseitiger ist. Beginnen müssen wir konkret, eindrucksvoll und unbedingt mit Kontrasten: Wolf und Vogel, Böses und Gutes, Großes und Kleines. Der Prägnanz der Charaktere entspricht die Prägnanz der verschiedenen Klang-farben, jede handelnde Person hat ihre
Leitmotive.“, überlegt Sergei.

Die Erstaufführung findet vor 85 Jahren am 2. Mai 1936 statt, mit Natalja als Sprecherin – und schon bei der Wiederholung drei Tage später ist klar: das neue Stück ist ein voller Erfolg, die Zuschauerinnen und Zuschauer sind begeistert! „Das Libretto habe ich nicht allein verfaßt, sondern auch du. (…) Bei der Veröffentlichung geben wir beide Namen an. Danke für die Mitautorenschaft.“ gratuliert Sergei Natalja.

Doch daraus wird nichts, schon ein Jahr später wird Natalja als angebliche Spionin verhaftet – der amerikanische Botschafter hatte eine ihrer Theatervorstellungen besucht, und sie ist außerdem die ehemalige Ehefrau von Marschall Tuchatschewski, der 1937 verhaftet und erschossen wird. Da ist es nicht geraten, ihren Namen zu erwähnen. Fünf Jahre verbringt sie in einem Arbeitslager in Sibirien – erst nach dem Tod von Stalin 1953 wird sie entlassen und rehabilitiert. Am selben Tag wie der Diktator stirbt auch Sergei Prokofjew. Nur wenige Menschen erfahren davon, nicht einmal Blumen schmückten sein Grab. Natalja Saz kehrt 1958 nach Moskau zurück und setzt ihre Arbeit fort: Sie gründet 1964
das Moskauer Musiktheater für Kinder, das sie bis an ihr Lebensende leitet.

Bernd Hans Göhrig